Severin Groebners Newsletter
Groebners neuer Glossenhauer
Der neue Glossenhauer

Posting-Time-Paradise

30.August 2024

Also wenn ich - was ja nur ganz selten vorkommt - bei einem Text nicht weiter komme - weil ich zum Beispiel diesen Newsletter schreiben muss, aber dann von aktuellen Ereignissen überholt werde, die den kompletten, bereits fertig geschriebenen Newsletter in den Papierkorb wandern lassen - also wenn ich a-u-s-n-a-h-m-s-w-e-i-s-e mal meine kostbare Zeit auf Erden damit verbringe, Soziale Medien zu konsumieren, was bekanntlich ungefähr so sinnvoll ist, wie ein komplettes Menu mit Vorspeise, Hauptgericht und Dessert samt Weinbegleitung und Gruß aus der Küche ungegessen in den Mülleimer zu kippen, also wenn ich das mache und - was so gut wie nie vorkommt - einfach mal Zeit beim Fenster raus schmeiße, in dem ich mich durch Videos und Postings und Fotos scrolle und scrolle und scrolle und es hört nie nie nie nie auf, weswegen man einfach immer weiter scrollen und scrollen und scrollen kann, bis zum jüngsten Tag, dem Pensionsantritt, dem Schlaganfall oder der Delogierung, weil man gar nichts mehr gearbeitet hat, weil man ständig nur scrollt und scrollt und scrollt und scrollt und aaaaaahh … also wenn ich das - was wirklich nicht sehr oft passiert - mache, dann - um nun endlich mal zum Punkt zu kommen, weil das ja wahnsinnig nervig ist, dieses Getexte ohne Punkt und nur mit Kommas, wo ein Nebensatz und ein Einschub nach dem anderen (teilweise mit Gedankenstrichen oder sogar Klammern willkürlich eingefügt…. nein… hinein betoniert wird, ja geradezu dazwischen geklebt und wenn gar nichts hilft, dann werden eben die drei berühmt-berüchtigten Punkte bemüht, was ja irgendwie alles sagt…) einen am Lesen hindert - dann hat mein meistens schon vergessen, warum man dieses Zeug sich eigentlich angesehen hat.

Warum war man gerade auf dieser Plattform?
Was wollte man?
Ähh… ah ja: Soziale Medien.
Genau.
Das meiste, was man dort ja sieht…
…und das ist schon falsch, weil ja jede und jeder dort etwas anderes sieht. Der Algorithmus sorgt ja für die individuelle Soziale Medien Welt.

Die einen sehen nur Videos, wie man auf Flüssen in Tirol und Bayern angelt und Kanu fährt und Fische ausnimmt - das ist das Zeug von den sogenannten Innfluenzern - die anderen sehen nur, wie man sich mit der Heißklebepistole selbst ein Permanent-Make-Up verpassen kann (sogenannte Ugly-Tipps) und die dritten schauen sich in Koch-Shows an, wie Wladimir Putin homosexuelle, ukrainische Klimaschützer in seiner 28-Zimmer-Garage auf einem zum Grill umgebauten Panzer aus dem zweiten Weltkrieg zu einem Cheeseburger ohne Käse und ohne Brötchen aber mit Segen der russisch-orthodoxen Kirche verwandelt.

Sowas sieht man dort.
Vielleicht.

Ich sehe ständig nur Kolleginnen und Kollegen, die ihre besten Witze auf diesen Plattformen verschenken, in der Hoffnung, dass die Leute dann kommen, um sich den nicht mehr ganz so lustigen Rest live auch noch anzusehen.

Oder sie präsentieren Bücher, die sie geschrieben haben.
Oder sie machen Fotos, damit man weiß, auf welchem Bahnhof sie jetzt schon wieder gestrandet sind.

Oder sie haben eine neue CD.
So wie ich.

Ich habe eine CD. Yeah! Mit Liedern! Sie heißt „Nicht mein Problem“ und erscheint bei Monkey Music. Am 16.9. ist Präsentation in der Kulisse in Wien und…
…darüber wollte ich gar nicht reden. Da mach ich noch ein Video demnächst. Und stell es auf die Sozialen Medien. Wo es alle …wegscrollen können.

Und was ich dort noch sehe, sind Menschen, die andere Menschen nachmachen. Erfolgreiche Menschen. Von früher. Ständig laufen einem falsche Freddie Mercurys, gefälschte Dolly Partons, fast echte Robbie Williams, nahezu originale Liza Minellis und täuschend echte Rolling Stones über den Bildschirm ( bei letzteren erkennt man den Fake daran, dass sie so jung ausschauen).
Ein einzige Revival-Kostüm-Party.

Unterbrochen nur von Videos, die einen anbrüllen mit: „Sei einfach Du selbst!“
Und das macht vor der Politik nicht Halt. Ganz wenige der politischen Parteien haben ja einen Plan für die Zukunft. Dafür haben die meisten eine sehr gute Idee über die Vergangenheit. Die wollen zurück in die 70er und 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts.

Warum? Weil die Wählerinnen und Wähler das auch wollen.
Verständlich, damals war man ja noch kein angefetteter Mitfünfziger, der die Zusammenhänge nicht mehr versteht und sich von jungen Leuten nicht die Welt erklären lassen will, sondern damals war man ein junger Springinsfeld, dem die Zukunft gehört hat und der angefetteten Mitfünfzigern, die die Zusammenhänge nicht mehr verstanden haben, die Welt erklärt hat.

Und weil der Retrotrend so sexy und hot ist, gibt es jetzt Parteien, die wollen noch weiter zurück.Nicht in die 70er, auch nicht in die 60er, aber - mindestens - in die 50er.
Da wo es Wirtschaftswachstum gab und Heimatfilme.
Also, eigentlich will man genau dort hinein: in den Heimatfilm.
In eine Welt voller Trachten und ohne Waldbrandgefahr. Wo man noch mit dem Verbrennermotor im offenen Verdeck durch die Alpen donnern konnte. Und die Wirtin vom Gasthaus „Zur braunen Wildsau“ war keine Drag Queen, sondern eine ehemalige BDM-Ortsgruppenführerin.

Und die Menschen mit anderer Hautfarbe, die waren keine Gäste, keine Kellner, nicht einmal Küchenhilfen oder Putzpersonal, die waren schlicht nicht da. Und nicht in Berufen tätig, wo man dringend auf sie angewiesen ist, wie etwa heute in Pflege und Handwerk.
Das wollen diese Parteien.

Und wenn man sie stört auf ihrem Weg ins Wirtschaftswunderland, weil man sagt, dass Zeitreisen erstens nicht möglich sind und zweitens das der Weg in Richtung „Rue de la Gack“ ist (wie man die Scheißgasse in Wien nobel nennt), dann radikalisieren sie sich und wollen gleich nochmal weiter zurück: In die 40er.

Wo alle gleich waren. Die einen haben die gleichen Uniformen getragen und die anderen waren gleich tot. Nur diesmal wollen die in den 40er Jahren nicht nach Russland, sondern sie hoffen, dass Russland zu ihnen kommt.

Das alles geht mir durch den Kopf, wenn ich auf diesen Sozialen Medien unterwegs bin.
Und das verwirrt mich.

Aber vielleicht verstehe ich angefetteter Mittfünfziger auch nicht alles.
Ich prob’ lieber meine Lieder. Für die Präsentation meines Albums.
Oder… ich schreibe - endlich! - meinen Newsletter.